Psychologie: "Es schien mir einfacher, meilenweit weg zu fliegen, als Nein zu sagen"

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Lange Zeit dachte unsere Autorin, Reisen wäre ein Teil ihrer Persönlichkeit. Dabei gab es da nur einen kleinen Übersetzungsfehler zwischen Bedürfnissen.

In wie vielen Freundesalben, Steckbriefen und Hobby-Spalten ich es wohl schon notiert habe: Ich mag Reisen. Nicht auf die lässige Backpacker-Südostasien-Abenteuer-Weise, sondern eher die griechische-Inseln-Buch-Meer-Art, aber ja, ich reise sehr gern. Dieses ganze Gereise hat mich sogar dazu gebracht, ein Sabbatical zu nehmen. Da gab es dann aber einen kleinen Twist: Nach fünf Wochen der fünf Monate wollte ich kurzzeitig plötzlich nach Hause. Nicht, weil ich Heimweh hatte. Sondern weil ich etwas fand, wonach ich immer in schönen Buchten und kleinen Gassen gesucht hatte.

Das klingt jetzt wie die Einleitung eines Coaching-Seminars zum Thema Selbstfindung und Erleuchtung, in dem Sätze fallen wie “Alles, was du brauchst, hast du bereits in dir” (ist was dran) und “Suche im Innen statt im Außen” (stimmt in der Regel auch), aber keine Sorge, ich verspreche, nichts davon zu schreiben.

Zurück zur fünften Woche der fünf Monate: Ich hatte gerade eine Yoga-Ausbildung abgeschlossen, in der man sich zwangsläufig sehr viel mit sich selbst auseinandersetzt. Es war also einige Zeit vergangen, in der ich mich intensiv mit Dingen beschäftigt hatte, die mich interessierten. Und zwar nur mich. In denen ich nur auf meine Bedürfnisse achtete, darauf, was ich wollte – ich war schließlich alleine dort, in einer Gruppe, aber ohne Begleitung. Trotz Schweiß, Tränen und Elefanten-Hornhaut an meinen Knien (das gibt’s) fühlte ich mich mir selbst sehr nah.

Reise ich wirklich gern – oder fliehe ich vor den Bedürfnissen anderer?

Plötzlich konnte ich es kaum erwarten, dieses Ich in meine Heimat zu bringen. Freund:innen zu treffen und es zu genießen. Meinen Alltag so zu leben, wie ich es mir vorstelle – und nicht so, wie andere es von mir erwarteten. Und ich merkte, wie fern ich mir zu Hause die letzten Jahre gewesen war. Denn wenn ich mich so sehr danach sehnte, mein “normales” Leben zu genießen, hieß das leider auch, dass ich es lange Zeit nicht getan hatte. Heruntergebrochen lebte ich mein Leben im Ausland, in den Territorien anderer, nach ihren Regeln, Wünschen und Erwartungen. So, wie man sich sonst eben den Gegebenheiten eines Urlaubslandes anpasst.

Es schien mir jahrelang einfacher, mich in ein Flugzeug zu setzen und meilenweit weg zu fliegen, als Nein zu sagen. Als mich einfach mal nicht zu melden. Meine Akkus aufzuladen, bevor ich meine Energie anderen spende.

Was ich mittlerweile weiß: Wenn ich meine eigenen Grenzen nicht wahre, überquere ich geographische.

Ich ertappe mich auch heute noch dabei: Gerade erst fragte mich eine Freundin, ob ich kommenden Samstag Zeit hätte. Ich kam frisch aus dem Urlaub, aufgeladen, wusste, ich habe Zeit – und sagte zu. Was ich dabei aber auch wusste: Damit hatte ich mir meinen einzigen freien Tag der Woche abgesprochen. Innerhalb der letzten Tage hatte ich ein so schlechtes Bauchgefühl, dass ich ihr letztlich wieder absagte. Früher sagte ich quasi nur ab, wenn ich mich außerhalb des Landes und der Greifbarkeit anderer befand.

Heute spricht mein Bauch klarer zu mir – oder ich habe gelernt, seine Sprache zu verstehen. Übersetzungsfehler wie “Buche dir einen Flug nach Griechenland” statt “Sag ab und nimmt dir Zeit für dich” passieren immer noch, aber seltener. Das ist nicht nur konto-, klima-, sondern auch selbstwertfreundlicher – und damit auf allen Ebenen nachhaltiger.

Ich habe mein Sabbatical übrigens nicht nach fünf Wochen abgebrochen. Ich bin weiter gereist, habe meine Pläne aber angepasst: und zwischendurch bewusst Zeit zu Hause eingeplant. Meine Reisesucht ist weniger geworden, der Druck einer Lust gewichen. Früher habe ich mit jeder Meile, die mich weiter von meiner Heimatstadt entfernte, eine zunehmende Erleichterung gespürt. Heute spüre ich aber auch eine Vorfreude, wenn ich mich ihr wieder nähere. Ich habe immer noch Fernweh, aber keinen Fluchtinstinkt mehr.

Source: Aktue