Ans Paarleben anknüpfen: "Was ist, wenn wir uns nun nichts mehr zu sagen haben?"

Aktuel

Spontan verreisen, beim Sex Geräusche machen –alles möglich, wenn die Kinder ausgezogen sind. Verziehen Sie etwa gerade das Gesicht? BRIGITTE WOMAN-Autor Stefan Schwarz über den Versuch, mit seiner Frau an das Paarleben anzuknüpfendas sie als Kinderlose hatten.

Alles begann, als ich meiner Frau beim Abendbrot erzählte, dass ich am nächsten Morgen einen Zahnarzttermin hätte. “Geh bitte rechtzeitig los!”, sagte sie, ohne groß von ihrem Teller aufzuschauen. “Nimm die Krankenkarte mit, das Quartal ist rum! Und lass dir einen Stempel in dein Bonusheft machen!” 

Nicht, dass meine Frau mich nicht schon früher hin und wieder an der kurzen Leine geführt hätte, vor allem bei öffentlichen Feiern (“Mein Mann möchte nichts mehr trinken. Mein Mann möchte jetzt gehen.”), aber in diesem Moment erkannte ich, dass meine Frau gar nicht mich oder etwaige Schusseligkeiten meinte, sondern schlicht und ergreifend Entzugserscheinungen hatte, genauer: Auszugserscheinungen. Vor zwei Wochen war unsere Tochter ausgezogen, und nun hatte sie niemanden mehr, den sie bemuttern konnte. Man denkt ja immer, Kinder brauche man sich nicht abgewöhnen, weil man sich ja auch seine Eltern nicht abgewöhnen musste, als man selbst auszog, aber das stimmt nicht. Wenn man fast zwei Jahrzehnte sein Denken, Tun und Reden auf das allerliebste Töchterchen gerichtet hat, dann kann man nicht einfach von einem Tag auf den anderen damit aufhören.

“Ja, Mutti, mach ich”, sagte ich dann auch

Meine Frau lächelte traurig und starrte auf den Phantomteller an ihrer Seite, wo einst unsere Tochter gesessen hatte. “Es ist so ruhig”, sagte sie dann, und ich stimmte ihr zu. “Zu ruhig”, ergänzte ich, und meine Frau stimmte mir ebenfalls zu. Wenn unsere Tochter noch anwesend gewesen wäre, hätte sie gerufen: “Was ist los mit euch? Ihr könnt doch nicht einfach einer Meinung sein?”

Tatsächlich schien es so, als sei mit dem Kind auch der Streit ausgezogen. Immerhin hatten sich unsere dramatischsten Ehekonflikte stets am Wunsch entzündet, dem Kind ein Vorbild, ja ein Role-Model, zu sein. Oft unterbrach meine Frau meine gelehrten Vorträge bei Tisch nur, um der Tochter zu zeigen, wie eine moderne Frau mit Wichtigtuern und Oberlehrern umgeht. Ich hingegen sprach dann Widerworte von beißender Ironie, um dem Spross meiner Lenden zu beweisen, dass sich ein Mann stets gelassen seiner Haut zu wehren weiß. Drei Widerreden weiter war es dann zwar meist mit der Gelassenheit vorbei, und wir stritten uns wie die Kesselflicker, aber natürlich nur, um der Tochter zu zeigen, dass wir unsere Wut nicht ungesund anstauten, unsere Gefühle nicht unterdrückten oder um des lieben Friedens willen klein beigaben wie einst unsere Eltern, sondern herzhaft fochten für die eigene Meinung. Selbst die Versöhnung am nächsten Tag, wenn ich mein Bettzeug von der Couch wieder ins Schlafzimmer räumte, geschah demonstrativ. Unsere Tochter sollte wissen, dass man nach einem Streit auch dann wieder zusammenfinden konnte, wenn man sich vorher mit Nutztiernamen bezeichnet hatte.

Vorbei. Das Elterntheater hatte geschlossen.

Aber nicht nur das Elterntheater war zu, auch das Jugendschiedsgericht war außer Dienst. War doch unsere Tochter mit zunehmenden Alter nicht nur Publikum unserer Vorführungen, sondern auch letzte Instanz geworden. Wenn sie bei allfälligen Konflikten sprach: “Da hat Papa recht!”, war die Sache entschieden. Und auch ich wagte es nicht, einen Disput zu verlängern, in dem die Tochter bereits “Ich sehe das so wie Mama!” geurteilt hatte. 

“Was ist, wenn wir uns nun nichts mehr zu sagen haben?”, fragte ich bang in die Stille. Meine Frau ahnte, woher die Frage kam. Unsere Freundin Steffi hatte vor gar nicht so langer Zeit zu später Stunde mit der Ehrlichkeit des fünften Rotweinglases gesagt: “Ich trenne mich von Thoralf, sobald Lara aus dem Haus ist.” Und bevor ich mich noch fragen konnte, wie man eine Ehe mit einem feststehenden Verfallsdatum führt, meinte Steffi weiter: “Ich wüsste auch gar nicht, worüber ich mit ihm noch reden sollte, außer über Lara und ihre Angelegenheiten.”

“Du könntest mit ihm darüber reden, was du alles an ihm verabscheust”, schlug ich vor, weil ich auch schon etwas angetüdelt war. “An einem Mann gibt es jeden Tag neue, schlimme Seiten zu entdecken. So könnte er jeden Abend nach Hause kommen und sich fragen: Was wird sie heute an mir auszusetzen haben? Vielleicht, wie ich mir mit der Zunge die Reste vom Rucola aus den Zahnzwischenräumen popele? Wie ich in meine Faust aufstoße, wenn ich einen Schluck Bier aus der Flasche getrunken habe? Oder sind es meine dachsgrauen Nasenhaare, die ich zu selten rasiere?”

Meine Frau trat mich unter dem Tisch, weil sie der Meinung war, ich würde Steffi nicht ernst nehmen, aber das tat ich. In meiner Welt ist Genervtsein für Partnerschaften weniger gefährlich als Langeweile. Meine Schwiegermutter zum Beispiel fragt jedes einzelne Mal, wenn ihr immerhin 83-jähriger Gatte den Kaffeelöffel nach dem Umrühren nicht auf die Untertasse sondern auf die Tischdecke legt, ob er das in diesem Leben noch mal lernt. Ich meine die Antwort zu kennen, aber für sie ist das eine spannende Frage und hält ihr Interesse am Gatten wach. 

“Wir brauchen einfach Abwechslung! Urlaub!”, rief ich darum. “Damit wir wieder was zu erzählen und zu diskutieren haben. Jetzt, wo kein Schulkind mehr bei uns wohnt, können wir endlich antizyklisch verreisen. Staufrei und billig. Nachsaison, wir kommen!” 

Wir warfen also spontan kleines Gepäck ins Auto und fuhren in ein Kurbad am Ostseestrand. Nach einem Tag im Badeort wussten wir dann, warum die Nachsaison so billig ist. Erstens, weil in der Nachsaison gern Familien mit noch ganz, ganz kleinen Kindern den Frühstückssaal bevölkern. Kindern, die schnell anfangen zu weinen und nur sehr langsam damit aufhören, obwohl es andersrum angenehmer wäre. Zweitens, weil im Schwimmbecken des Spa-Bereichs zu jeder Tageszeit ein Dutzend betagter Brustschwimmer bedächtig wie Meeresschildkröten ihre Bahnen ziehen, während ihr Rückenhaar wie Fadenalgen hinter ihnen herflattert, und in den Saunen Seniorinnen sich darüber unterhalten, wer aus ihrem Freundeskreis nun auch schon wieder drei Jahre tot sei. Und schließlich drittens, weil das Wetter draußen so kalt, nass und windig ist, dass man sich eigentlich nur in eines der vielen Cafés flüchten kann, wo aber wieder die Familien mit den schnell weinenden Kleinkindern sind.

Abends im Restaurant saßen wir dann mit ein paar anderen Paaren bei Kerzenschein. Leider sprachen sie so wenig, als müssten Worte extra bezahlt werden. Nachdem wir anderntags noch ein Fischbrötchen von der Promenade nicht vertragen hatten und uns für 15 Euro Eintritt den Schreibtisch und das Vertiko eines hier mal gelebt habenden Lokaldichters im Heimatmuseum angesehen hatten, fuhren wir wieder nach Hause.

“Wenn das die berühmte Kinderfreiheit ist”, murrte meine Frau, “dann will ich das nicht.”

“Wir dürfen nicht einfach das tun, was wir können, weil wir kein Schulkind mehr haben”, meinte ich, “wir müssen zurück zum Ursprung. Als wir keine Kinder hatten, ging es bei uns laut zu, ohne dass wir uns streiten mussten.” Meine Frau grübelte, aber nur kurz. “Du meinst, wir sollten endlich mal wieder richtig Radau im Bett machen? So laut, dass die Nachbarn klingeln?”

“Genau! Erinnerst du dich noch, wie sie geklingelt und geklopft haben, und du gerufen hast: Ich komme! Ich komme gleich! und dann aber nicht hingegangen bist?” Mein Frau grinste sehr breit. “Ich bin ja auch gekommen. Nur nicht an die Tür.”

Als wir wieder zu Hause waren, saß zu unserer großen Überraschung die Tochter im Wohnzimmer und sah sich auf unserem Fernseher irgendwas auf Netflix an, weil das WLAN in ihrer Studentenbude gestört war. Die Tatsache, dass sie nicht die Wärme der einst heimatlichen Wohnung suchte, sondern uns nur noch als technischen Support benutzte, ließ den Schmerz ihres Auszugs gleich ein bisschen schwächer werden. Wir erzählten von unserem missglückten Kurzurlaub und packten die Koffer aus. 

“Wir gehen jetzt ins Bett!”, sagte ich dann zu ihr, und sie winkte kurz, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. “Ja, schlaft schön!” Ich musste deutlicher werden. Die Tochter sah mich erschrocken an.

“Deine Eltern gehen jetzt ins Bett, aber sie werden nicht gleich schlafen!” 

“Und es könnte laut werden!” – “Okay, okay, ich hab verstanden. Bin schon weg”, sagte sie und sprang von der Couch, denn furchtbarer als das Wissen, die eigenen Eltern könnten “es” tun, ist die Aussicht, “es” auch noch mit anhören zu müssen. Schon war sie aus der Tür, und zum ersten Mal hatten wir die Wohnung für uns allein, ohne es zu bedauern.

Source: Aktue